SPECIAL: Experten-Statements

Sind Computerspiele die neuen Romane?

„Zeitverschwendung. Du verlierst den Blick für die Realität.“ Das haben Eltern früher zu ihren Kindern gesagt, wenn sie zu viele Romane lasen. Heute: „Lies doch mal wieder ein Buch. Das erweitert deinen Horizont.“ Und viele würden alles dafür tun, dass ihr Nachwuchs wenigstens mal einen Harry Potter aufschlägt und für ein paar Stunden das Gamepad beiseite legt.

Werden wir in einigen Jahren zu unseren Kindern sagen: „Mach doch mal ein Computerspiel, das erweitert deinen Horizont“? Können Computerspiele das leisten, was man sonst gerne den Büchern zuschreibt: uns in eine andere Welt mitnehmen und wichtige menschliche Erfahrungen machen lassen? Erzählen Computerspiele womöglich noch viel intensivere Geschichten als Bücher - weil man selbst ein Teil davon ist? Oder werden sie immer nur platter Zeitvertreib sein?

Als Fantasyautor interessieren mich diese Fragen natürlich brennend. Und so habe ich mal bei Vertretern beider Branchen um ein Statement gebeten. Diese werde ich nach und nach veröffentlichen. Vorhang auf für ...


SEBASTIAN PIRLING

Bücher und Computerspiele haben in der Tat gemeinsam, dass sie mich Lebenszeit kosten – Zeit, die ich in einer Welt des „Als ob“ zubringe. Insofern kann man zumindest von einer An-reicherung sprechen, denn ich begebe mich in fiktionale Paralleluniversen. Ob daraus auch eine Be-reicherung meines Lebens wird, hängt von den Ideen ab, die ich aus den Erzählwelten der Bücher und Spiele wieder mitnehme. Spiele versuchen diese Ideen zunehmend über ethische Entscheidungshürden zu vermitteln, mit denen sie dem Spieler einen Spiegel vorhalten. Bücher sind da etwas direkter, da die Idee durch das Lesen im Kopf selbst Gestalt gewinnt. Davon abgesehen gibt es natürlich unzählige Geschichten, ob gelesen oder gespielt, die nur auf Unterhaltung, also Befeuerung der Sinnesreize ausgerichtet sind. Gute Bücher, gute Spiele allerdings sind wie ein erfahrener Tanzpartner: Sie nehmen mich in den Arm und leiten mich durch eine Erfahrung, die mich tatsächlich beschenkt und bereichert zurücklässt. Und vielleicht wird am Ende ja auch mehr daraus …“

Sebastian Pirling ist Lektor in der Science-Fiction- und Fantasy-Abteilung des Heyne Verlags. Die Faszination von Parallelwelten ist ihm also schon von Berufs wegen bekannt. Gerade in der Fantasy-Szene nehmen Computerspiel-Stoffe eine wichtige Rolle ein (u.a. verlegt Heyne die Warhammer-Romane). Weshalb Sebastian sich intensiv mit dem Medium und seiner Wirkung auf Menschen beschäftigt.
www.heyne.de

TITUS MÜLLER

„Warum lieben es so viele Gamer, mit ein paar Arbeitern in der Wildnis ausgesetzt zu werden? Warum lieben sie es, Holz zu hacken, Lagerhäuser zu errichten, Gold zu schürfen, Eisenerz abzubauen, Getreide anzupflanzen, ihre Siedlung zum Wachsen zu bringen? Zahlreiche Simulationen erzeugen auf die gleiche Weise Glücksgefühle bei den Spielern: Bei SimCity baut man eine Stadt, bei Simutrans ein Netzwerk von Eisenbahnschienen und Stationen, andere Spiele fordern dazu heraus, einen Freizeitpark, einen Bauernhof, eine Ameisenkolonie oder eine Raumstation aufzubauen. Warum mögen wir das?

Wir sind vom Wesen her so geschaffen, daß wir träumen und planen und beobachten. Wir wollen erobern, wir haben Freude daran, mit riskanten Schritten die Umgebung zu erkunden. Warum sonst würde sich ein Mensch in eine Metallröhre zwängen und sich in den Weltraum schießen lassen? Warum sonst hätten wir Holzkästen mit Proviant aufgefüllt und wären auf die Weltmeere hinausgefahren, um neue Kontinente zu entdecken? Wir sind auf das Wachsen ausgelegt, auf das Ausweiten unserer Fähigkeiten und Ressourcen. Die meisten von uns können sich aber keine Südseeinsel kaufen, und viele haben kein Geld für eine Urwaldexpedition. Also spielen wir. Wir leben unser Menschsein aus.“

Titus Müller gehört zu den wenigen Schriftstellern, die vom Schreiben leben. Seine historischen Romane zeichnen sich aus durch exzellente Recherche, eine ausgefeilte Sprache und eine sprichwörtliche Detailverliebtheit. Zuletzt erschienen Der Kuss des Feindes (Fischer JB) und der Titanic-Roman Tanz unter Sternen (Blessing). Titus entführt nicht nur seine Leser in fremde Welten - als begeisterter Gamer taucht er auch selbst gerne in Paralleluniversen ab.
www.titusmueller.de